Kraftakt Energiespagat

NEW BUSINESS Guides - UMWELTTECHNIK- & ENERGIE-GUIDE 2022/23
Die ganze Welt, besonders Europa, hat einen Kraftakt vor sich. © Adobe Stock/tankist276

Eine Lösung für die akute Energiekrise in Europa muss her, tunlichst ­jedoch ohne langfristig negative Auswirkungen auf die notwendige ­Energiewende. Diesen Spagat zu schaffen, ist ein Kraftakt ...

... für alle Beteiligten. Aber es gibt keine Alternative.

Da gibt es nichts zu beschönigen: Die hohen Energiepreise bringen Europas Wirtschaft an ihre Grenzen und darüber hinaus. Aus Deutschland hört man nicht nur von Drosselungen in der Produktion, sondern auch davon, dass Mittelständler vereinzelt ihre Fertigung komplett stilllegen, um stattdessen am Verkauf von Gas zu verdienen. Jedoch nur, wenn sie dank langfristiger Versorgungsverträge weiterhin günstig einkaufen können.

Zu der akuten Problematik, besonders in Sachen Gas, kommt noch die langfristige Per­spektive im Hinblick auf den Klimawandel hinzu, die nach verstärkten Bemühungen bei der Transformation der Versorgung hin zu „grünen“, erneuerbaren Energien verlangt. Doch selbst bei vorhandenem Willen dazu lässt sich Österreich nachvollziehbarerweise gar nicht so schnell mit Photovoltaikanlagen und Windrädern zukleistern, wie es notwendig wäre, um die derzeitige Krise damit zu meisten. Von den Möglichkeiten und Kapazitäten der zugrunde liegenden In­fra­struktur einmal ganz abgesehen.

Ein schmerzhafter Spagat also, in den sich besonders Europa heute hineinzuquälen versucht. Viel Optimismus vorausgesetzt, lässt sich die aktuelle Lage aber auch als Gelegenheit auffassen.

„In den letzten Jahren lag die Aufmerksamkeit stärker auf dem Klimaschutz als auf der Energiesicherheit. Die aktuelle Krise bietet für die globalen Energiemärkte und Regierungen die Chance, beide Themen gemeinsam voran­zubringen. Indem wir jetzt Energiesparmaßnahmen sowie Solar- und Windkraftanlagen fördern und parallel die bislang größten Klimaschutzpakete effektiv umsetzen, können wir bedeutende Fortschritte in beiden Bereichen zugleich erzielen“, sagte beispielsweise kürzlich Martina Sennebogen, Managing Director bei Capgemini in Österreich, im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der 24. Ausgabe des jährlichen World Energy Markets Observatory (WEMO), der von Capgemini in Zusammen­arbeit mit De Pardieu Brocas Maffei, Vaasa ETT und Enerdata erstellt wurde.

Der diesjährige WEMO untersucht, wie dieses Gleichgewicht durch die Kombination von kurzfristigen Maßnahmen und langfristigen Entscheidungen erreicht werden kann. Diese betreffen etwa die Reform des Energiemarktdesigns, nachhaltige Energieversorgung und attraktive Finanzierungskonditionen für langfristige klimafreundliche Investitionen.

Schulterschluss von Politik, Industrie und Energieversorgern notwendig
Soweit die Theorie. Wie es in Österreich in der Praxis aussieht und welche Gedanken sich Executives aus der heimischen Energiewirtschaft sowie Industrie machen, das stand im Mittelpunkt des Diskussionsformats „Chefsache“, zu dem Ende September Phoenix Contact und die Melzer PR Group einluden. Unter dem Titel „Energie­zukunft Österreich“ diskutierten sie, wie eine gute gemeinsame Lösung aussehen könnte. „Unser Berechnungsmodell sagt, dass die Kosten für Energie für Unternehmen und Konsumenten im nächsten Jahr in etwa 30 Milliarden Euro höher sein werden als im letzten Jahr“, prognostizierte etwa Monika Köppl-Turyna, Direktorin des Wirt­schaftsforschungsinstituts EcoAustria, im Rahmen des Executive Talks.

„Davon werden etwa sieben Milliarden auf die Haushalte und 23 Milliarden auf die Unternehmen zukommen. Von allen ­Vor­schlägen der Preisdeckelung halten wir die Gas­preisdeckelung für am sinnvollsten. Eine Sub­ven­tionsgrenze von 125 Euro für den Einsatz von Erdgas würde einer Reduktion des Strompreises von etwa 40 Prozent gegenüber dem Stand von Anfang September entsprechen. Der Strompreis würde dabei weiterhin deutlich über dem langjährigen Schnitt liegen und damit auch kräftige Anreize zur Reduktion des Verbrauchs bieten.“ Genau das sei entscheidend für ein Umdenken von Politik und Indus­trie: Nur hohe Preise könnten eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bewirken, die jetzt dringend notwendig sei.

Volatilität der Strom- und Gaspreise größtes Problem
Die derzeit größte Herausforderung für Energieversorger liege, so die Geschäftsführerin der Energie AG Oberösterreich Trading GmbH, Melanie Schönböck, in der Unberechenbarkeit der Preisentwicklung und in den extrem gestiegenen Risiken: „Schon 2021 lag der Strompreis mit 87 Euro pro Megawattstunde auf einem All-Time-High, am 26. August 2022 war er rund zwölfmal so hoch. Momentan liegen wir in etwa immer noch bei einer Versechsfachung im Vergleich zu 2021, und beim Gaspreis sieht die Entwicklung ähnlich dramatisch aus. Das Pro­blem, vor dem wir alle stehen, ist, dass keiner weiß, wozu der Preis ins­besondere bei einer weiteren Verknappung im Winter noch imstande ist.“

Einig war man sich in der Runde, dass eine temporäre Deckelung des Gaspreises in Europa, wie von der österreichischen Energiebranche vorgeschlagen, zumindest kurzfristig den Strompreis senken und die Kosten besser kalkulierbar machen würde. 

„Eine wirkliche Erleichterung wird es erst geben, wenn Angebot und Nachfrage wieder besser zusammenpassen“, fügte Melanie Schönböck hinzu. „Denn nur dann wird der Markt wieder zu ‚normalen‘ Preisen zurückkehren. Das kann durch eine langfristige Diversifizierung der Gasquellen, Einsparungsmaßnahmen und durch eine Erhöhung des Angebots auch am Strommarkt erreicht werden. Dafür müssen auch noch Hürden im Bereich Ausbau der erneuerbaren Energien, Stichwort Genehmigungsverfahren und Netzausbauten, abgebaut werden. Als wesentliche Einflussgröße insbesondere am Gasmarkt ist natürlich auch die geopolitische Situation zu nennen.“

Alleingänge nicht zielführend
Martin Wagner, Managing Director der Verbund Energy4Business GmbH, zeigte sich überzeugt, dass Eingriffe in den Markt nur gelingen könnten, wenn sie europaweit gedacht und umgesetzt würden: „Es muss gemeinsam mit Politik, Wissenschaft und Industrie an einer gesamtheitlichen und dauerhaften Lösung der Energie- und Klimakrise gearbeitet werden. Nationale Allein­gänge sind nicht zielführend, wir müssen international kooperieren.“

Alle Hebel müssen in Bewegung gesetzt werden
Thomas Lutzky, Geschäftsführer von Phoenix Contact in Österreich, sah, zusätzlich zum akuten Handlungsbedarf der Politik, auch die Unternehmen selbst gefordert: „Kurzfristig müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um der Gas­krise sinnvoll zu begegnen. Gleichzeitig gilt es die Klimakrise zu adressieren.

Schlüssel­faktoren da­für sind der Ausbau erneuerbarer Energien, Speicher und die Sektorenkopplung für mehr Effizienz beim Verbrauch. Hier geht es neben Neuinvestitionen auch um die Ertüchtigung der bereits installierten Basis. Das braucht technische Innovationen in der Netzwerk- und Automatisierungstechnik, denn vieles, was Hochglanzbroschüren heute versprechen, besteht den Praxistest noch nicht.“

In der Arbeit mit heimischen Unternehmen zeige sich zudem, dass das Wissen um den eigenen Energieverbrauch nicht ausreichend vorhanden sei, so Lutzky weiter: „Engmaschiges Monitoring ist die Voraussetzung dafür, dass Einsparungspotenziale erkannt werden. In der Vergangenheit war vieles betriebswirtschaftlich nicht so relevant, was jetzt dringend geboten ist.“

Martin Wagner ergänzte: „So wie die Pandemie die Entwicklung der Kommunikationstechnologien massiv vorangetrieben hat, wird der Fokus jetzt auf den Ausbau der erneuerbaren Energien gerichtet. Und hier gilt tatsächlich, dass wir jeden freien Zentimeter mit Photovoltaikanlagen bebauen müssen, der möglich ist.“

Mehr Netzwerkkapazitäten und Energiealternativen 
In Österreich und in Europa stehe man allerdings hier vor dem Problem der mangelnden Netzwerkkapazitäten. Denn zu viele Betreiber von PV-Anlagen destabilisieren das Netz zusätzlich, sagte auch Ulrike Haslauer, geschäftsführende Gesellschafterin von Compact Electric: „Es müssen strategische und ganzheitliche Konzepte zur Energieautarkie entwickelt werden. Denn was nutzen uns die vielen PV-Anlagen, wenn sie das Netz destabilisieren? Es muss dringend in ein besseres Stromnetz investiert werden, um eine gute Basis für die heimische Industrie zu schaffen. Um diese aktuelle Krise bewältigen zu können, braucht es jetzt österreichweit einen ganz engen Schulterschluss von Politik, Industrie und Energieversorgern.“ 

Außerdem sei es dringend an der Zeit, sinnvolle Alternativen zu angekauftem Strom und Wärme zu nutzen, regte Martin Mühlbacher, Vice President Operations und Standortleiter von Innio Jenbacher in Tirol, an: „Wasserstoff wird künftig notwendig in volatilen Stromzeiten sein. Außerdem müssen Biogase in Österreich viel mehr genutzt werden. Mit kleinen Klärgasheizkraftwerken können schon 50 bis 100 Haushalte mit Strom und Wärme versorgt werden.“ Innio könnte den Jenbacher Standort mit 2.000 Mitarbeitern in Tirol komplett energieautark betreiben, und das, trotz energieintensiver Produktion, sogar mit Überschuss. „Neben der Photovoltaikanlage nutzen auch wir Erdgas und Wasserkraft für unseren Bedarf“, so Mühlbacher weiter. „Entscheidend für ein Unternehmen ist auch die passende Software, die mittels künstlicher Intelligenz feststellt, wo Strom und Wärme in dem jeweiligen Augenblick am meisten gebraucht und wo sie zeitgleich am besten eingespart werden können.“

Um unabhängig von russischem Gas zu werden, brauche es seitens der Politik unbedingt einen Ausbau des Wasserstoffnetzes sowie leistbare Produkte. Mühlbacher: „Derzeit muss für eine effiziente Wasserstoffproduktion der Strom günstig sein. Ein Wasserstoffkonzept funktioniert erst dann gut, wenn Überschussstrom im Netz ist, der abgenommen werden muss. Es ist eine langfristige Lösung, die wir aber mit einer intelligenten Nutzung von erneuerbaren Energien aus Wind, Sonne und Wasser erreichen können.“

Die ganze Welt, besonders Europa, hat also einen Kraftakt vor sich. Dazu gibt es keine Alternative. Aber das Ziel ist die Anstrengungen wert. (RNF)