Energie aus dem Viertel

NEW BUSINESS Guides - FACILITY-MANAGEMENT-GUIDE 2019
Die Fachhochschule Technikum Wien beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Erforschung von nachhaltiger Energieerzeugung. © fhtw/Grabner

Lebensräume, die mehr Energie erzeugen, als sie verbrauchen, sind möglich. Die Fachhochschule Technikum Wien forscht an lebenswerten Plus-Energie-Quartieren ...

... und legt den Fokus dabei auf die Bedürfnisse der Bewohner.

Für die Erreichung der Klima- und Energieziele muss sowohl die Energieversorgung von Gebäuden als auch die Integration nachhaltiger Mobilität zukunftsfähiger, sicherer und leistbarer werden. Denn an den gesamten Treibhausgasemissionen Österreichs sind Gebäude mit zehn Prozent und der Verkehr mit 29 Prozent beteiligt. Die rein technische Fachhochschule (FH) Technikum Wien beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Erforschung von nachhaltiger Energieerzeugung. Im aktuellen dreijährigen Forschungsprojekt „Kompetenzteam für lebenswerte Plus-Energie-Quartiere (KoLPEQ)“ verfolgt sie einen interdisziplinären Ansatz und legt den Schwerpunkt auf die Bedürfnisse und die Einbindung der Bewohner.
„Die Technologien zur nachhaltigen Nutzung und Produktion von Energie gibt es bereits, wo wir Nachholbedarf haben, ist die aktive Einbeziehung der Nutzer. Wir können planen, messen und forschen, aber letztlich hängt der Erfolg von der Anwendung ab. Wir haben in diesem Forschungsprojekt erstmals einen interdisziplinären Ansatz gewählt, der Plus-Energie-Quartiere gesamtheitlich betrachtet. Ausgehend von den technologischen Möglichkeiten beziehen wir verstärkt die Bewohner ein, um individuelle Lebenswelten sichtbarer zu machen und letztlich ihre Lebensqualität zu erhöhen“, so Kurt Leonhartsberger, Leiter des Kompetenzfelds Energiesysteme und Leistungselektronik an der FH Technikum Wien.

Mehr Lebensqualität, weniger Energieverbrauch
Mit Unterstützung der Stadt Wien setzt die FH Technikum Wien mit KoLPEQ (Kompetenzteam für lebenswerte Plus-Energie-Quartiere) ein dreijähriges Forschungsprojekt auf, das die Lebensqualität und die Nachhaltigkeit zukünftiger Gebäude und Quartiere in den Mittelpunkt stellt. Geforscht wird an Bauprojekten in Planung sowie an bestehenden Quartieren. Aus technologischer Sicht geht es um den Einsatz von Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen, Erdwärmesonden als saisonale Wärmespeicher oder Smart-Grids-Anwendungen. Die Herausforderung liegt aber nicht im Einsatz der einzelnen Technologien, sondern in ihrem smarten Zusammenspiel. Ziel der Forschung ist es, Modelle und Methoden zu entwickeln, welche die komplexe Interkonnektivität abbilden können.
„In KoLPEQ ist nicht das Gebäude selbst im Fokus der Forschung, sondern das Quartier mit Büros, Geschäftslokalen und Wohnungen. Diese Akteure brauchen zu unterschiedlichen Zeiten Energie, die lokal produziert und getauscht werden kann. Wichtig für das smarte Zusammenspiel ist die Interaktion der Bewohner sowie der Gebäude mit dem technologischen Angebot. Die Bewohner bekommen hier eine neue, wesentliche Rolle zugeteilt, indem sie aktiv in einer Sharing Economy für Energie und Mobilität teilnehmen können“, erklärt der Projektleiter Simon Schneider von der FH Technikum Wien.
Anders stellt sich die Planung und Umsetzung von Bestandsbauten dar. „Hier muss man einerseits die Bausubstanz überprüfen und andererseits die Bewohner mit zahlreichen Argumenten für Investitionen einer nachhaltigen Energieversorgung ins Boot holen“, so Schneider weiter. „Unsere Erfahrung zeigt, dass hier oft viel Informationsbedarf besteht und Überzeugungsarbeit bei den Bewohnern zu leisten ist. Aber hier liegt definitiv das größte Potenzial. In einem unsanierten Gründerzeithaus können mindestens 80 Prozent der Heizungsenergie eingespart werden. Die Sanierungsrate in Wien liegt derzeit wie im Bundesdurchschnitt allerdings nur bei 0,4 Prozent pro Jahr – nötig wären zwei bis drei Prozent.“

Interdisziplinärer Ansatz
Am Beginn der Umsetzung von Plus-Energie-Quartieren stehen meist die Analyse von technischer und wirtschaftlicher Machbarkeit sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen und städtebaulichen Anforderungen an die Lebensqualität. Das Forschungsteam von KoLPEQ wurde um eine sozialwissenschaftliche Kompetenz erweitert, um die Sicht und die neue Rolle der Nutzer in die gesamtheitliche Betrachtung stärker einzubeziehen. Die Akzeptanz seitens der Bewohner für Maßnahmen in der baulichen Nachverdichtung für hocheffiziente Sanierungen oder die digitale Vernetzung ist häufig gering, die Ursachen dafür sind vielfältig. In Plus-Energie-Quartieren können sie zusätzlich noch Teil einer Sharing Economy für Energie und Mobilität werden.
„Die Umsetzung scheitert oft am Widerstand der Bewohner, wobei es mehr um zwischenmenschliche und alltägliche Belange geht als um technologische Lösungen“, weiß Kurt Leonhartsberger aus seiner langjährigen Erfahrung mit anderen Projekten. „Als Techniker lernt man durch die Einbindung der Bewohner viele neue Aspekte kennen, die für den Nutzer hohe Relevanz haben, aber aus Sicht der Technolo­gien zuvor nicht im Blickfeld waren.“ In ­KoLPEQ werden die Bewohner mittels Workshops, qualitativen Einzelinterviews, Fragebögen und Veranstaltungen mit sozialwissenschaftlicher Begleitung eingebunden.

Ergebnisse fließen in die Lehre
Die Forschung an und Umsetzung von Plus-Energie-Quartieren ist ein hochaktuelles Thema, da es enormes Potenzial für die nachhaltige Energienutzung und somit auch für eine Reduktion der CO₂-Emission bietet. Dementsprechend groß ist die Nachfrage an Fachkräften bei der integrativen Stadtplanung, Quartier­betreuung, bei Bauträgern, Konsulenten und Fachplanern. Daher ist geplant, dass die ­Ergebnisse von KoLPEQ einerseits in Form von Handlungsempfehlungen für weitere Quartiere einfließen, aber auch in die Lehre an der FH Technikum Wien integriert werden. „Die Inte­gration von neuen Erkenntnissen in ein bestehendes Curriculum ist oft ein langwieriger Prozess. Mit KoLPEQ verfolgen wir einen neuen Ansatz, bei dem wir die Ergebnisse rasch in die Lehre integrieren wollen. Die Nachfrage aus der Wirtschaft nach Fachkräften mit diesem Know-how ist groß, sodass wir unsere Studenten am letzten Stand der Forschung ausbilden wollen“, so Leonhartsberger abschließend.
Ein weiteres wesentliches Ziel von KoLPEQ ist die Planung einer interdisziplinären Sommerakademie zum Thema lebenswerte Plus-Energie-Quartiere. Hier werden Masterstudierende der Raumplanung, der Architektur, der Haus- und Energietechnik sowie der Soziologie und der Informatik zusammenarbeiten, die für die jeweiligen Revitalisierungsprojekte interdisziplinäre Teams bilden.
In Österreich sind laut dem BMLFUW bereits jetzt über 37.000 Arbeitsplätze dem Bereich der erneuerbaren Energien zuzuordnen. International ist der Trend noch stärker zu sehen: Die Internationale Organisation für erneuerbare Energien (IRENA) geht von einer 60-prozentigen Steigerung der weltweiten Beschäftigung im Bereich erneuerbare Energien von rund 9,8 Millionen (Stand 2016) auf 24 Millionen bis zum Jahr 2030 aus. Das kann man wohl positive Jobaussichten nennen. (RNF)

INFO-BOX
Was ist ein Plus-Energie-Quartier?
Eine ganz klare, konkrete, verbindliche Definition dessen, was der Begriff Plus-Energie-Quartier alles beinhaltet, gibt es noch nicht. Aktuell arbeitet unter anderem eine Arbeitsgruppe des bmvit an einer Begriffsdefinition. Grundsätzlich geht es dabei um eine räumlich klar abgegrenzte Einheit, die mehrere Gebäude samt deren Zwischenraum umfasst. Diese Einheit erreicht über das Jahr eine positive Energiebilanz, produziert also mehr Energie, als sie verbraucht. Um dieses Ziel zu erreichen gibt es viele Wege, darunter Smart Grids, Solaranlagen, intelligente Gebäudesteuerung, Elektromobilität oder Wärmedämmung.